Welches Image hat eigentlich das schwedische Schulsystem in Ihren Augen, geneigte Leserin, geneigter Leser? Sehr gut? Ordentlich? Oder doch nicht? Oder nicht mehr? Jonas Linderoth, Professor für Pädagogik an der Uni Göteborg und ausgewiesener Experte zum Thema Games in Education, stellte diese Frage letzten Montag an den Anfang seines großartigen Vortrags im Rahmen des Symposiums Future Learning?! an der PH Wien.
Und gab dann gleich die Antwort: Auch wenn man PISA-Ergebnisse mit Vorsicht und in Relation zu dem, was sie nicht in den Blick nehmen würden, sehen müsse: Den Schweden würde durch die seit Jahren kontinuierlich schlechter werdenden PISA-Resultate die Rechnung für ihre Privatisierungsstrategie im Schulwesen präsentiert. Schulerhalter haben in Schweden nämlich die Möglichkeit, privatwirtschaftlich kalkulierend die Kosten fürs pädagogische Personal zu senken – und tun das auch beispielsweise durch das Auswechseln von pädagogischen Profis mit Computern und „billigerem“ Aushilfspersonal.

Zum Ausgleich würden die Schulen – die Kinder bzw. Eltern haben ja die „Wahlfreiheit“ – fürs Hochhalten des Renommees und der Schüler/innenzahlen dafür Noten „herschenken“, was zur skurrilen Situation führt, dass in Schweden die von links oben nach rechts unten weisende PISA-Performance-Kurve von der von links unten nach rechts oben führenden Notendurchschnittskurve geschnitten wird …
Wer sich mit diesem Thema vertiefend auseinandersetzen möchte, dem sei übrigens das Buch Global Education Reform wärmstens empfohlen, das sich u.a. in einem Kapitel ausführlich Schweden als Fallbeispiel widmet. Von dessen Lektüre her war mir der von Jonas Linderoth dargestellte Sachverhalt auch nicht neu.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Gerade als Einleitung zur Rückschau auf eine Woche, mit deren Ergebnissen ich sehr zufrieden bin? In der u.a. im Rahmen des erwähnten Symposiums das Future Learning Lab Wien (FLL.wien) gleich von zwei Bundesministerinnen, nämlich Sonja Hammerschmid und Sophie Karmasin, eröffnet worden ist und damit siebeneinhalb Monate harter Arbeit einen guten, würdigen, wirklich gelungenen Abschluss (der gleichzeitig ein Anfang ist) gefunden haben?
Ich stelle diese Geschichte aus zwei Gründen an den Anfang:
- Erstens war dieser Vortrag eines der Highlights der an Höhepunkten nicht gerade armen, eben zu Ende gehenden Woche.
- Und zweitens bringt diese Geschichte ein paar mir persönlich sehr wichtige Aspekte zur Sprache – und gleichzeitig in einen aussagekräftigen Zusammenhang mit der Tatsache, dass dieses Future Learning Lab Wien nur möglich wurde durch das wort- und tatkräftige, manchmal auch irritierende Engagement von insb. IT-Unternehmen, aber auch anderen Akteurinnen und Akteuren außerhalb des Bildungsministeriums. Was mich jetzt ein Stück weit vor die Frage stellt, ob ich jetzt Mitkämpfer bei der Privatisierung des Bildungswesens geworden wäre?
Was mir also wichtig ist:
- Ich habe in den letzten Jahren gerade durch die Mitarbeit an der NMS-Entwicklung die Bedeutung der Pädagogischen Profession zu schätzen gelernt. Eine Möglichkeit, das gesellschaftlich zum Ausdruck zu bringen, besteht zB darin, Lehrpersonen im Gegenzug für ihre große Verantwortung de facto vom Konkurrenzkampf am Arbeitsmarkt auszunehmen und ihnen eine – im Vergleich mit dem Großteil der Bevölkerung – durchaus respektable Gehaltssituation und -entwicklung zuzugestehen.
Mit Konkurrenz- und Privatisierungslogik erweist man Bildung einen Bärendienst. Das Beispiel Schwedens illustriert, welche (hoffentlich eigentlich unerwünschten) Dynamiken man damit ggf. auslösen kann. Eine Orientierungshilfe im komplexen Bereich der Bildung-, System- und Qualitätsentwicklung ist mir dabei Michael Fullan, insb. eines seiner letzten Werke Coherence: The Right Drivers in Action for Schools, Districts, and Systems) geworden.
Gerade die Lektüre des anfangs erwähnten Buches über Global Eduation Reform hat mir – zT dramatisch – vor Augen geführt, wie bedeutsam Bildung und Schulwesen als „gemeinsames Gut“ ist. Ein UNESCO-Dokument aus dem Jahr 2015 (Rethinking Education: Towards a global common good?) hat mir u.a. den Unterschied zwischen einem traditionellen „öffentlichen Gut“ (geht mich nichts an – „irgendwer“ wird sich schon darum kümmern …) und einem „gemeinsamen Gut“, um das man sich auch gemeinsam bemühen muss, klar gemacht. Prof. Roland Fischer, dessen Überlegungen zum Thema der Allgemeinbildung ich sehr zu schätzen gelernt habe, wies zuletzt Ende September beim IMST-Symposium in Klagenfurt darauf hin, dass Allgemeinbildung und deren historisch immer wieder notwendige Reaktualisierung auch Sache der Allgemeinheit wäre, die in entsprechenden partizipativen Prozessen auch eine Stimme bekommen müsse.
Im UNESCO-Dokument selbst heißt es auf Seite 11:
„The notion of common good allows us to go beyond the influence of an individualistic socioeconomic theory inherent to the notion of ‘public good’. It emphasizes a participatory process in defining what is a common good, which takes into account a diversity of contexts, concepts of well-being and knowledge ecosystems.“
- In den letzten Jahren ist in diesem Sinne auch meine Überzeugung gereift, dass es für die notwendige Bildungsreform- und Entwicklung mehr als nur das Personal des „Bildungsinnenraums“ braucht. (Bekanntestes Beispiel für dieses notwendige, gesellschaftliche Engagement ist aktuell in Österreich wahrscheinlich Neustart Schule.) Angesichts des langfristig geplanten Endes der NMS E-Learning-Unterstützung als meinem vorletzten, großen Bildungsprojekt im September 2016 hatte ich mir also als „next level“ meines beruflichen Engagements fürs Bildungswesen eine Konstellation gewünscht, in der das In- und Miteinander von Bildungsinnenraum und dem „Rest“ der Gesellschaft Prinzip wäre.
Genau eine solche Konstellation hat sich vor siebeneinhalb Monaten mit dem Auftrag, für den Verein zur Förderung digitaler Bildungsangebote (kurz: Future Learning) die Entwicklung des Future Learning Labs Wien gemeinsam mit der Pädagogischen Hochschule Wien umzusetzen, ergeben: institutionell eine Zusammenarbeit zweier Ministerien, letztlich mehrerer Abteilungen der PH Wien unter der Führung des Zentrums für Lerntechnologie und Innovation (ZLI) und mehrerer Partner aus der Wirtschaft. Man darf sich diese Arbeit nicht als „Kinderjause“ vorstellen. Es ist eines, von der notwendigen Zusammenarbeit von Institutionen zu schreiben, wie das beispielsweise die Strategie zum lebensbegleitenden Lernen in Österreich tut; und es ist ein anderes, das auch umzusetzen. Die Erkenntnis der letzten Monate – und ich habe ja schon kurz vor dem Sommerurlaub darauf hingewiesen – ist aber, dass der Nutzen der Nahtstelle im oben dargestellten, für Bildungsentwicklung existentiellen Sinn, ein großer sein kann. Ich freue mich sehr über das, was bislang an dieser Nahtstelle gelungen ist. Unsere ersten FLL.wien-Programmangebote versuchen die „Theorie“ auf den praktischen Punkt zu bringen.
Und ich bin gespannt, was uns – allen gemeinsam – in nächster Zeit noch gelingen wird!
DANKE allen: Klaus und Hermann von der PH Wien, Patrick, Adib und Harald, meinen drei Vereinsvorständen, den Partnern und Vereinsmitgliedern und den beiden beteiligten Ministerien BMFJ und BMB, allen voran ihren Ministerinnen, sowie der Initiative eEducation Austria für die Bereitschaft zur Zusammenarbeit!

PS: Die positive Resonanz auf die gerade fünf Tage alte Facebook-Präsenz @FLL.wien trägt das Ihre dazu bei, der weiteren Entwicklung dieses „Nahtstellenprojekts“ positiv und hoffnungsvoll entgegenzublicken 🙂